FOOD ADDICTION - Können Lebensmittel süchtig machen?

01.09.23 12:00 AM Von Mag. Julia Tulipan

Fällt es Ihnen schwer, mit einem Lieblingsessen aufzuhören, wenn Sie es einmal begonnen haben? Gibt es Lebensmittel, von denen Sie einfach nicht die Finger lassen können, obwohl Sie wissen, dass sie Ihnen nicht guttun? Sollten Sie eine dieser Fragen mit ja beantworten können, dann ist es möglich, dass Sie an einer Nahrungsmittelabhängigkeit (Food Addiction) leiden.


Nahrungsmittelabhängigkeit ist etwas anderes als einfaches Überessen (routinemäßig zu viel essen). Sie unterscheidet sich auch von emotionalem Essen (Essen, um unangenehme Gefühle zu betäuben) oder den klassischen Essstörungen. Food Addiction ist eine Form der neurochemischen Abhängigkeit von bestimmten Lebensmitteln. Sie ist vergleichbar mit einer Drogen oder Spielsucht. Die Schaltkreise im Gehirn des Esssüchtigen zwingen ihn dazu, unkontrolliert zu essen, wenn das auslösende Nahrungsmittel zugeführt wird, unabhängig davon, wie er sich emotional fühlt, wie sein geistiger Zustand ist oder wie groß sein Hunger ist. Emotionale Esser können eine Esssucht entwickeln, und Menschen mit Esssucht können durch starke Emotionen zu Essanfällen getrieben werden, aber beide können auch unabhängig voneinander existieren. Ähnlich wie manche Menschen Alkohol konsumieren, um mit Stress, Trauer und schwierigen Gefühlen umzugehen, aber nicht zu Alkoholikern werden. Die Verwendung von Alkohol als regelmäßiger Bewältigungsmechanismus kann jedoch zur Alkoholabhängigkeit prädisponieren. Ähnlich verhält es sich mit der Esssucht.1

Kann Essen süchtig machen?

Nahrungsmittelabhängigkeit (engl. food addiction) ist ein kontrovers diskutiertes Thema. Immer wieder wird die tatsächliche Existenz einer echten Abhängigkeit von Lebensmitteln in Frage gestellt. Glücklicherweise zeigen immer mehr Forschungsergebnisse, dass – genau wie bei Alkohol, Tabak, Kokain oder anderen Suchtmitteln – bestimmte Lebensmittel die uralten neurochemischen Belohnungswege des Gehirns aktivieren und eine chemische Abhängigkeit erzeugen können. Dies führt zu einer Sucht- Reaktion des Gehirns, die sich der Kontrolle durch individuelle Willenskraft oder Gelübde der Mäßigung entzieht. Die Anerkennung der Existenz einer echten Nahrungsmittelabhängigkeit im Sinne des WHO ICD-102 Katalogs zur Klassifizierung von Krankheiten ist vor allem für die betroffenen Menschen wichtig, um schnelle, aber allem voran passende Behandlungsoptionen und Unterstützung zu bekommen. 


Wie definiert man eigentlich Sucht? 

Die Weltgesundheitsorganisation unterscheidet einmal in stoffgebundene Abhängigkeiten (z. B. Alkoholabhängigkeit, Abhängigkeit von illegalen Drogen oder Medikamentenabhängigkeit) und süchtiges Verhalten (z. B. pathologisches Glücksspiel oder problematisches Computerspielen, Computerspielstörung). 

  • unbezwingbares Verlangen zur Einnahme und Beschaffung des Mittels 
  • Tendenz zur Dosissteigerung (Toleranzerhöhung) 
  • psychische und meist auch physische Abhängigkeit von der Wirkung des Mittels 
  • Schädlichkeit für den Einzelnen und/oder die Gesellschaft 
  • Verlust der Kontrolle über das eigene Verhalten 


„Wenn ein Bissen zu viel ist und 1.000 nicht genug“ 

Dr. Jen Unwin

 Bin ich von Nahrungsmittelsucht betroffen? 

Auch wenn ein paar Unbelehrbare immer noch die Existenz einer Nahrungsmittelabhängigkeit, in der wissenschaftlichen Forschung ist das Thema längst angekommen. Allein im letzten Jahr wurden über 400 wissenschaftliche Artikel zu dem Thema publiziert und es gibt mittlerweile anerkannte, validierte Food-Addiction- Fragebögen wie zum Beispiel der Yale Food Addiction Scale 2.0.3  


Die Yale Food Addiction Skala ist ein wichtiges Werkzeug zur Beurteilung und Erhebung wissenschaftlicher Daten und in der psychologischen Forschung. Mit über 30 Fragen und einem nicht unerheblichen Zeitaufwand, allerdings weniger gut anwendbar in der Beratungspraxis. Die klinische Psychologin Dr. Jen Unwin und ihre Kollegin Heidi Giaever entwickelten aus dem Fragenkatalog der American Psychiatric Association, einen an die Nahrungsmittelabhängigkeit angepasst Fragebogen. Unter dem Akronym C.R.A.V.E.D steht nun ein, nach IDC-10 Kriterien entwickelter, Fragebogen zur Verfügung.4 


Dieser Fragebogen soll dabei helfen, mögliche Abhängigkeiten von bestimmten Lebensmitteln und Getränken zu ermitteln: 

  1. Hatten Sie jemals ein so starkes Verlangen oder ein Gefühl von Zwang bei dem Gedanken, diese Lebensmittel zu essen, dass Sie dem Drang, sie zu essen, nicht widerstehen konnten? 
  2. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Sie immer größere Mengen dieser Lebensmittel verwenden müssen, um die gleiche Wirkung zu erzielen wie zu Beginn? 
  3. Haben Sie schon einmal bemerkt, dass Sie die Planung von Aktivitäten zunehmend vernachlässigen, weil Sie zu müde / verkatert / krank sind, weil Sie zu viel von diesen Lebensmitteln gegessen haben? 
  4. Haben Sie schon einmal mehr von diesen Lebensmitteln verwendet, als Sie beabsichtigt hatten? 
  5. Haben Sie jemals mindestens Entzugserscheinungen erlebt, als Sie den Konsum dieser Lebensmittel reduziert oder eingestellt haben? 
  6. Haben Sie diese Lebensmittel (jemals) weiter konsumiert, obwohl Sie oder eine andere Person der Meinung waren, dass Ihre Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme, Angstzustände, unerklärliche Stimmungsschwankungen, Depressionen, Panikattacken usw. oder andere psychische Probleme wahrscheinlich auf den Konsum dieser Lebensmittel zurückzuführen waren? 

Sollten Sie drei oder mehr dieser Fragen mit Ja beantworten können, dann ist das Vorliegen einer Art von Nahrungsmittelabhängigkeit sehr wahrscheinlich.

Wie kann es sein, dass Nahrungsmittel süchtig machen können? 

Der erste wichtige Punkt ist „Hyper-Schmackhaftigkeit“. Übermäßig schmackhafte Lebensmittel sind solche, die den „Sweet Spot“ in Ihrem Mund treffen und Ihrem Gehirn sofort sagen, dass Sie mehr essen sollen, auch wenn Sie satt sind. „Hyper“ bedeutet „übermäßig“ und „schmackhaft“ bedeutet „appetitlich“, „angenehm für die Geschmacksnerven". Ein übermäßig schmackhaftes Lebensmittel ist also ein Lebensmittel, das so verlockend ist, dass es Ihre Fähigkeit, die Essensmenge zu kontrollieren, außer Kraft setzt. Süße Empfindungen sind aus evolutionären Gründen ein intensiver Sinnesgenuss. Wir wurden dazu getrieben, süße Lebensmittel zu finden und zu konsumieren, um Nahrungsknappheit zu überleben. Die moderne Verfeinerung des Zuckers verstärkt nur noch seine süchtig machenden Eigenschaften. Zweitens kann das Gehirn nach dem Verzehr von Zucker leichter Tryptophan in Serotonin umwandeln, ein Wohlfühlhormon. Wir fühlen uns entspannt und schläfrig. Leider wird der Serotoninvorrat des Gehirns bei zu häufigem Verzehr erschöpft, so dass ein erhöhter Konsum erforderlich wird und die Stimmung auf Dauer sinkt. Das Gehirn schüttet auch Dopamin aus, den „Belohnungs“-Neurotransmitter. Wenn der Konsum anhält, reguliert das Gehirn seine Dopaminrezeptoren herunter, ähnlich wie bei anderen Süchten, und das Verlangen steigt. Unsere Kultur hat außerdem Zucker als „Leckerbissen“, „Belohnung“ und integralen Bestandteil all unserer Feierlichkeiten etabliert: Geburtstage, Weihnachten, Ostern, Ferien usw. Das geht so weit, dass der Verzicht auf Zucker als große soziale Einschränkung empfunden wird. 

Schritte aus der Sucht 

Der erste Schritt besteht darin, die Nahrungsmittelsucht als solche zu erkennen und zu benennen. Wenn Sie dann verstehen, was in Ihrem Gehirn auf neurochemischer Ebene vor sich geht, hilft Ihnen das, das eigene Verhalten besser zu verstehen und warum es so schwierig sein kann, Ihr Verlangen und den Drang zu essen zu kontrollieren – obwohl Sie satt sind und trotz sich der negativen Folgen bewusst. 


Der nächste Schritt besteht darin, eine ehrliche Bestandsaufnahme der Lebensmittel zu machen, die Sie einfach nicht mäßigen können, nach denen Sie sich sehnen und die Sie nicht kontrollieren können. Das sind Ihre Trigger- Lebensmittel. 


Die häufigsten Trigger-Lebensmittel sind Zucker und Süßigkeiten, raffiniertes Mehl und Kohlenhydrate sowie Mischungen aus Zucker, raffinierten Kohlenhydraten, Fett und Salz.

Ultra-verarbeitete Lebensmittel verleiten uns zum Überessen

Werbespruch eines bekannten Kartoffelchips- Herstellers könnte es nicht besser auf den Punkt bringen. Ultra-verarbeitete Lebensmittel sind so zusammengesetzte, dass sie besonders gut schmecken und unser Belohnungszentrum in einer Art aktivieren, wie es kein natürliches Lebensmittel vermag.

Schritte aus der Sucht – Aktions-Plan 

Abstinenz von Zucker, mehlhaltigen Lebensmitteln und hoch-verarbeiteten Lebensmitteln. 

  1. Fokus auf „echtes“ Essen 
  2. Keine low-carb oder zuckerfreie Alternativlebensmittel 
  3. Keine Cheat Days (Schummel-Tage). 
  4. Keine Süßstoffe 
  5. Der Fokus liegt nicht auf Gewichtsverlust, sondern darauf das Verlangen zu reduzieren 
  6. Vorsicht bei Alkohol, Nikotin und Koffein 
  7. Nüsse, Käse und Milchprodukte mit Vorsicht konsumieren 

Sollten Sie ein oder mehrere Lebensmittel für sich identifiziert haben, dann versuchen Sie diese zu 100% zu meiden. Betrachten Sie jeden Tag für sich genommen. Ein Tag nach dem anderen. Jeder Tag ist ein Erfolg. Schaffen Sie sich ein Netzwerk aus Freunden oder Familienangehörigen oder einem Coach, der Sie bei der Umsetzung unterstützt. Mit jedem neuen Tag wird es ein kleinwenig leichter fallen als am vorangegangenen Tag. 


Wichtig ist, auch wenn Sie mal rückfällig werden, geben Sie nicht auf. Ein neuer Tag bedeutet eine neue Chance. 

Quellen

  1. Schulte, Erica M., and Ashley N. Gearhardt. "Attributes of the food addiction phenotype within overweight and obesity." Eating and Weight Disorders-Studies on Anorexia, Bulimia and Obesity 26 (2021): 2043-2049. 
  2. ICD = International Classification of Diseases, Internationale Klassifizierung von Krankheiten 
  3. Gearhardt, Ashley N., William R. Corbin, and Kelly D. Brownell. "Preliminary validation of the Yale food addiction scale." Appetite 52.2 (2009): 430-436. 4 https://phcuk.org/far/ Dr. Jen Unwin, The Public Health Collaboration

Erschienen in:

Reformleben Magazin

Ausgabe Nr. 52 (Sept./Okt. 2023)

Die Wirksamkeit von Placebo

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Mag. Julia Tulipan

Mag. Julia Tulipan

https://juliatulipan.com/

Frau Tulipan ist Biologin und Master of Science in klinischer Ernährungsmedizin. Die Liebe zur Naturwissenschaft begleitet sie schon ihr ganzes Leben und bildet die Grundlage ihrer Beratungsphilosophie.