Die heilende Kraft im Verzichten

01.03.24 12:00 AM Von Dr. med. Klaus Mohr

Verzichten ist nicht gerade üblich in unserer Gesellschaft . Weiter verbreitet ist Fordern und Verlangen. Das Motto ist: Das steht mir zu. Vorwurfsvoll, manchmal anklagend. Hingegen ist dieser Satz von Mitmenschen, die bedürft ig, krank, schwach, notleidend sind und in Schwierigkeiten, die wirklich unsere Hilfe brauchen und Zuwendung nur ganz selten zu hören.

Satz des Jahres 2009: „Das steht mir zu“

YAusgesprochen von einer bedeutenden, selber wirtschaft lich durchaus erfolgreichen Sozialpolitikerin wurde „Das steht mir zu“ von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Satz des Jahres 2009 erkoren. Ein wahrhaft denkwürdiger Satz. Inzwischen gibt es schon etliche Ratgeber dazu. Einer davon mit dem Titel „Was steht mir zu? - Das müssen Sie über Renten, Rechte und Versicherungen wissen“, ist als kartonierte Broschüre für bescheidene 39 Euro erhältlich. 


Gewiss ist es ein edles Anliegen, Mitmenschen über ihre Ansprüche aufzuklären, die davon noch nicht wussten. Inzwischen haben in unserem ebenso hoch entwickelten wie komplizierten Sozialwesen allenfalls noch Spezialisten den Durchblick. Bedürft ige benötigen da Beratung.

Starker Sozialstaat?

Politiker sprechen gern und oft vom starken Sozialstaat. Wobei nicht ganz klar ist, was stark als Attribut da bedeutet. Stark in der Sozialleistung (gut 30 Prozent des Bruttosozialproduktes wird von Verbänden gewöhnlich als unzureichend bezeichnet) oder stark in der Verteidigung? Die Ausgaben für die Landesverteidigung liegen deutlich unter 2 Prozent des BSP.

„Das steht mir zu“ in der medizinischen Versorgung

Institutionen gegenüber, oder der Allgemeinheit, gerichtet an die Krankenkasse, die Rentenversicherung, die Sozialkassen, die Medizin oder den Staat, ist „Das steht mir zu“ überaus deutlich: Das ist mein Recht. In der medizinischen Versorgung fällt der Satz manchmal, wenn es um besondere Diagnostik und Therapien geht, die von Influencern, nicht nur im Internet, oder von Bekannten als unbedingt nötig gepriesen („Das steht dir doch zu“), jedoch noch nicht vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen empfohlen wurden. Die Behandlungsergebnisse damit sind oftmals nicht überzeugend.

FOMO – Angst etwas zu versäumen

Schließlich macht „Das steht mir zu!“ auch etwas mit uns selber, verändert uns. Dahinter steckt nämlich die Angst, irgendeine Möglichkeit, irgendein Angebot, irgend einen Anspruch auszulassen, zu versäumen. Setzt uns selbst damit unter Druck. Früher traf das wohl nur auf ein paar Leute zu. Ausgelöst und verstärkt von sozialen Medien sind derartige Störungen, erstmals beschrieben 1996 und als FOMO bezeichnet (Fear of Missing out) relativ häufig geworden. Unter jüngeren Menschen soll schon mehr als jede/jeder vierte von der Angst, etwas zu versäumen, betroffen sein. In der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) ist die Störung noch nicht aufgeführt, obgleich sie für die Betroffenen und ihnen Nahestehende sehr belastend sein kann und vermutlich das Entstehen von Ängsten, Depressionen und Burnout fördert. FOMO medikamentös zu behandeln, wäre sicherlich keine gute Idee. Als Gegenmittel, wenngleich nicht ganz leicht zu vermitteln, ist JOMO (Joy of missing out), die Freude daran, nicht an allem teilhaben zu müssen gewiss sinnvoller. Die kann man/frau entwickeln und stärken durch Meditation. Durch Achtsamkeit für die Lebenssituation und durch Dankbarkeit.

Die Befreiung von FOMO

Genau diese Freude, inneres Glück und Resilienz erwächst auch aus dem Verzichten, aus der Befreiung von FOMO. Aus dem Glück, nicht alles haben, brauchen und tun zu müssen. Nicht alles kaufen zu müssen. Aus der Gelassenheit. „Wie zahllos sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf“, hatte Sokrates lapidar angemerkt. Ohne diese Dinge kann es uns wirklich viel besser gehen.

Zivilisationskrankheiten und Konsumstress

Der permanente Kauf-, Konsum- und Verbrauchsdruck in unserer Wohlstandsgesellschaft, angefeuert von der Angst, irgendein Angebot, irgendeine Möglichkeit zu verpassen, ist der Gelassenheit abträglich. Sowie der Gesundheit. Die Unfähigkeit, zu verzichten macht anfälliger für verbreitete Krankheiten, unter anderem für Zivilisationskrankheiten. Otfried Höffe, emeritierter Professor für politische und praktische Philosophie (Universität Tübingen sowie Tsinghua-Universität Peking) weist in dem Buch „Die hohe Kunst des Verzichts“ auf die Notwendigkeit des Verzichtenkönnens für das Entwickeln von Besonnenheit hin. Die Besonnenheit galt schon den griechischen Philosophen Platon und Aristoteles als Kardinaltugend, neben der Tapferkeit, der Gerechtigkeit und der Klugheit.

Schlüssel zur Resilienz

Besonnenheit ist in der heutigen Zivilisation mit ihren enormen wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten notwendiger, wie Professor Höffe erklärt, als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Nicht verzichten können ist zudem ein wesentlicher Risikofaktor des Sündigens. Zugegeben, in unserer Wohlstandsgesellschaft wirkt der Begriff Sünde antiquiert. Heute ist viel mehr von Angst, Burnout, Depression, Verlieren, Versagen, Scheitern, Verzweifeln zu hören. Verständlicherweise, denn das sind weitverbreitete und massiv belastende Probleme. Bei deren Entstehung die Unfähigkeit oder die fehlende Bereitschaft, zu verzichten zumindest ein Cofaktor ist.

Was können wir aus der Geschichte lernen?

In früheren Gesellschaften wurde es für gut und sinnvoll, ganz einfach vernünftig erachtet, die Kardinalsünden nicht zu begehen, ihnen nicht zu verfallen, ihnen bestmöglich aus dem Weg zu gehen. Obgleich in der katholischen Kirche auch als Todsünden bezeichnet, wussten auch die Menschen im Mittelalter selbstverständlich schon, dass sich vor den Sündhaften die Erde nicht auftun würde, um sie zu verschlingen. Als Zurückweisen von Gott und seinem Bund der Liebe hat Papst Johannes Paul II. den Begriff „Todsünde erklärt“.


Dazu zählt: 

Invidia: Missgunst, Neid, Eifersucht Superbia: Überheblichkeit, Übermut, Eitelkeit 

Avaritia: Habsucht, Gier, Geiz 

Luxuria: Begehren, Genusssucht, Luxus 

Gulia: Selbstsucht, Völlerei 

Acedia: Trägheit, Ignoranz, Feigheit 

Ira:Zorn, Wut, Empörung, Hass 

Das nennt ihr Todsünde, werden manche Zeitgenossen und Zeitgenossinnen hier zweifelnd fragen: Das ist doch heutiger, realer Alltag! Und weil das so ist, ist unsere Gesellschaft und die Zukunft in ernster Gefahr. Zeitgemäßer würde man wohl von Einstellung sprechen statt von Sünde. Und feststellen: Mit diesen Einstellungen sind die Konflikte zwischen Gruppen und Staaten sowie einzelnen Menschen unlösbar. Und mit diesen Einstellungen ist auch die Klimaveränderung nicht abzuwenden.

„Das steht mir zu“ in der Politik

Dass die fehlende Bereitschaft und daher auch die Unfähigkeit zu verzichten, hinter diesen Einstellungen (bzw. Sünden) steckt, ist evident. Heftig und wortreich wird die Selbstsucht etwa verteidigt („Das steht mir doch zu“) – und stets empört. Das Muster ist in Forderungen höchst selbstbewusster Berufsgruppen zu erkennen, die Schlüsselpositionen in unserer Gesellschaft einnehmen. Es ist in Verbänden und Organisationen zu finden. Manchmal scheint es geradezu kennzeichnend für unsere Zeit zu sein. Manch eine/einer wird da vielleicht auch an einen absurd verehrten Präsidentschaftskandidaten in den USA denken, an dessen Überheblichkeit, Selbstsucht, Ignoranz und Demagogie. Von Klima- und Naturschutz will Trump nichts wissen. Sein großes, häufig betriebenes Privatflugzeug würde dazu auch nicht passen. Die mögliche Wiederwahl Trumps würde das Gefahrenpotenzial auf der Erde weiter verschärfen.

… und Gesellschaft

Die Welt ist ohnehin schon voller Auseinandersetzungen, voller Forderungen, voller Überfälle, voller Unrecht, voller Kriege, voller Wut, Hass und Zerstörung. Hilflos steht demgegenüber Ignoranz, Trägheit und Feigheit. Absolut und fundamental keine Bereitschaft auf irgend einen, noch so kleinen Verzicht ist da zu erkennen, vielmehr das Gegenteil: Das steht mir doch zu. Entsetzlich und schlimm, grauenhaft ist vieles, das in der Welt, um uns herum geschieht. Doch damit habe ich nichts zu tun, das liegt nicht an mir, denkt manch einer/eine da. Das bisschen, das ich fordere und verlange und will, macht nichts aus. Selbstverständlich muss ich das fordern, weil es mir schlecht geht. Weil ich mehr brauche. Vor allem mehr Geld. So schlüssig ist die Argumentation häufig. Während ich das schreibe, stehen wieder mal Bahnen still, Fahrgäste werden abgewiesen,

der Volkswirtschaft entsteht Schaden in Höhe von fast einer Milliarde Euro, während im Sozialwesen Geld fehlt. Der Gewerkschaftsführer erklärt dazu stolz und von sich selbst überzeugt, ohne erkennbaren Selbstzweifel, das sei rechtmäßig. Von Gerichten bestätigt. Ja dann ist es wohl so. Der entstandene volkswirtschaftliche Schaden wird irgendwie anders behoben werden, vielleicht durch Neuverschuldung, durch Mehrarbeit gewiss nicht. Und die Welt wird sich weiterhin um unser kleines Wohlstandsland drehen, um die systemrelevanten Berufe. Und die Erdtemperatur wird wieder so wie in 1750 sein. Frühling, Sommer, Herbst und Winter aufeinanderfolgen wie einst, Jahr für Jahr. Realistisch betrachtet wird das gar nicht mehr so sein. Weil es im Wesen der Menschen liegt, auf keine Möglichkeit verzichten zu können. Nicht verzichten zu wollen. Dafür zu zerstören.

Der Fluch des Prometheus

Ihr Schöpfer hatte das bald schon erkannt, dass die Lizenz „Macht euch die Erde untertan“ nicht besonders gut war für die Erde – und schließlich auch nicht gut für die Menschen selber. Um da vielleicht noch ein wenig retten zu können, wurde den Menschen einiges Wissen zuteil, Erkenntnis. So auch die Selbsterkenntnis, dass Sündhaftigkeit weit verbreitet, den Menschen geradezu eigentümlich ist. Und nur vom Menschen selber überwunden, zumindest minimiert und eingehegt werden kann. Wobei Ignoranz, Habsucht und Gier oftmals stärker scheint. Was vorhanden und möglich ist, wird eingesetzt. So geschah es auch mit dem Feuer. Sloterdijk (dt. Autor, Philosoph u. Kulturwissenschaftler, Buch: Die Reue des Prometheus, suhrkamp) erinnert an den Fluch des Prometheus.

Technischer Fortschritt auf Abwegen

Nach kleinen Anfängen, dem Nutzen des Feuers um sich daran zu wärmen und Brot zu backen, wurden Brennstoffe, anfangs Holz, später Kohle, Erdöl und Gas in großem Maßstab zum Betrieb von Maschinen genutzt. Zum Roden von Wäldern und Asphaltieren/Betonieren von Autobahnen. Und Erdöldestillate, Benzin, Diesel, Kerosin zum Umherfahren und zum Umherfliegen. Jährlich werden (Stand 2022) um 4,39 Milliarden Tonnen Erdöl verbrannt, davon 357 Milliarden Liter als Kerosin, 11.500 Liter/Sekunde. Allein für die „zivile“, kommerzielle Luftfahrt. Der militärische Verbrauch kommt dazu. Zudem wird da verbrannt und zerstört mit Sprengstoffen und verheerenden Raketen. Hinter derartigem Einsatz des technischen Fortschritts steckt Überheblichkeit, Selbstsucht mit dem Streben nach Macht, Ignoranz, Rücksichtslosigkeit. Die Machthaber autokratisch regierter Staaten versuchen ihre Pfründe zu sichern. Gewaltsam unterdrückt, lassen die Völker das zu. In anderen Ländern finden sich erstaunlich viele Autokratenversteher. Die Kriegsgefahr wächst allenthalben. 


Was im Mittelalter Todsünde genannt wurde, und in unserer säkularen Gesellschaft Einstellung (hört sich neutraler an, schien manchen sogar clever und smart zu sein) erweist sich nun als Triebfeder der Klimaveränderung, des Kriegführens, der Zukunft sverhinderung. Mehrheitlich, möglichst vollzählig, sollte die Menschheit darauf verzichten. De facto als tödlich.

Mitverantwortung des Einzelnen

Der/die Einzelne kann daran wenig, fast gar nichts ändern. Wird uns beschwichtigend zugerufen. Demnach würde individueller Verzicht fast nichts bringen. Die Politik wird es richten für uns, wird behauptet, mit Auflagen, Beschränkungen, Gesetzen, Verboten, Gängelungen. Häufig ist da von Gerechtigkeit die Rede. Wirkliche Gerechtigkeit würde aber vielmehr Verzicht erfordern. Verzicht auf alles Unnötige. Ursprünglich war Verzicht im Rechtswesen bedeutsam, worauf Professor Otfried Höffe hinweist: für die Gemeinschaft, den Staat, für dessen Gewaltmonopol, musste der einzelne, die einzelne auf Selbstjustiz etwa oder Verfolgung verzichten. Aufgrund des weltweiten Zerstörungspotenzials, nicht nur militärisch, sondern auch an Tankstellen oder durch Buchung von Flugtickets verfügbar, mittels Konsumentscheidungen, ist individueller Verzicht in den Wohlstandsländern auf alles Unnötige grundlegende Voraussetzung für die Gerechtigkeit. Geradezu ignorant und armselig mutet es da an, wenn Gerechtigkeit bloß als Umverteilung von Geld propagiert wird. 

Notwendiger Mentalitätswandel

Ist die Menschheit überhaupt noch zu retten? Das ist nicht so sicher. Mit der bisherigen Mentalität, mit „das steht mir zu“, wohl nicht. Darauf sich einstellen, ist besser als die Gefahr ignorieren. Was wird dann besser sein: Alles das möglich ist/war mitgenommen zu haben, um noch mal in Saus und Braus zu leben, hedonistisch? Oder asketisch, auf alles verzichtend, das nicht unbedingt notwendig ist? Wäre wohl aussichtsreicher. Denn die Strategie „Mehr desselben“ war nur ganz selten hilfreich. Wird aber sehr, sehr häufi g versucht. Und die Alternative? Natürlich weiß niemand genau, was unbedingt notwendig ist. Man/frau muss das nicht zwanghaft praktizieren, nicht bis zur zweiten Stelle nach dem Komma, nicht fundamentalistisch. Besonnenheit hilft .


Mangel im Überfluss

Auf die Frage, was ihnen wichtig sei, antworten und wünschen viele Mitmenschen in Frieden, frei, möglichst unabhängig und möglichst gesund, vor allem mental, arbeiten, lieben und verantwortlich leben zu können. All das muss andauernd verteidigt, erarbeitet und gestärkt werden, um zu bleiben. Der Verzicht auf Unnötiges und Schädliches trägt ganz wesentlich dazu bei. In einer Gesellschaft, die auf Konsum, Verbrauch und Wachstum programmiert ist, mag das paradox scheinen. Tatsächlich besteht da viel Mangel im Überfluss.


Auf Unnötiges verzichten, um Notwendiges besser zu tun, ist sicher ratsam. Scheint so einfach. Ist aber im Alltag, im Einzelfall schwierig abzuwägen, oft mals komplex. Grundsätzlich ist Verzichten sinnvoller als Konsumieren. Macht resilienter. 


Besser vorbeugen, Gesundheit entwickeln und bewahren als eingreifende Medizin benötigen. Nicht alle Krankheiten können verhindert werden, jedoch ein wesentlicher Teil. 


Im Basisprogramm für längere Gesundheit werden wichtige Naturstoffe dafür erklärt. 


(Die halte ich für unbedingt notwendig und möchte selber darauf nicht mehr verzichten.)

Erschienen in:

Reformleben Magazin

Ausgabe Nr. 55 (März/April 2024)

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Dr. med. Klaus Mohr

Dr. med. Klaus Mohr

In Fachkreisen und bei seinen Lesern hoch geschätzter Mediziner und Autor, der es versteht Natur- und Schulmedizin zum Nutzen seiner Patienten einzusetzen.